Aufschieberitis und Depression: Den gefährlichen Teufelskreis durchbrechen
Die Wäsche türmt sich, Rechnungen bleiben unbezahlt, und die Bewerbung für den Traumjob wartet seit Wochen auf deinem Laptop. Du willst es angehen, wirklich! Aber irgendetwas lähmt dich komplett. Was viele als simple Faulheit abtun, kann tatsächlich Ausdruck einer tieferen psychischen Belastung sein. Aufschieberitis (Prokrastination) und Depression sind wie zwei Seiten einer Medaille – sie nähren sich gegenseitig und können einen lähmenden Kreislauf erzeugen, aus dem auszubrechen immer schwieriger wird. Warum fällt es so schwer, die einfachsten Dinge zu erledigen, wenn man depressiv ist? Und wie kann chronisches Aufschieben selbst zu depressiven Symptomen führen?
Was ist Aufschieberitis (Prokrastination)?
Prokrastination bezeichnet das chronische Aufschieben von Aufgaben, obwohl du die negativen Konsequenzen kennst. Es geht dabei um mehr als nur gelegentliches Verschieben von unangenehmen Pflichten. Während jeder mal etwas aufschiebt, wird bei der chronischen Prokrastination das Aufschieben zum Dauerzustand.
Typische Anzeichen sind, dass du wichtige Aufgaben ständig nach hinten verschiebst, dich stattdessen mit unwichtigen Dingen beschäftigst und vieles erst in letzter Minute erledigst. Diese hartnäckige Aufschieberitis hat tiefere psychologische Ursachen: Schwierigkeiten mit Belohnungsaufschub, Angst vor Versagen oder übertriebener Perfektionismus.
Studien zeigen, dass etwa 20% der Erwachsenen unter chronischer Prokrastination leiden. Bei Studierenden sind die Zahlen mit 70-95% noch deutlich höher – ein Hinweis darauf, dass bestimmte Lebensphasen und Anforderungen das Problem verstärken können.
Was kennzeichnet eine Depression?
Eine Depression ist mehr als nur eine vorübergehende Traurigkeit. Es handelt sich um eine ernsthafte psychische Erkrankung mit tiefgreifenden Auswirkungen auf Denken, Fühlen und Handeln. Im Gegensatz zu normaler Traurigkeit, die als Reaktion auf Ereignisse auftritt und wieder abklingt, ist eine Depression anhaltend und beeinträchtigt den Alltag erheblich.
Zu den körperlichen Symptomen gehören chronische Erschöpfung, Schlafstörungen (sowohl Schlaflosigkeit als auch übermäßiges Schlafbedürfnis) und deutliche Veränderungen beim Appetit.
Kognitiv zeigen sich negative Gedankenmuster, Grübeln, Konzentrationsprobleme und Schwierigkeiten, selbst einfache Entscheidungen zu treffen.
Emotional erleben Betroffene eine tiefe Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit und oft ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Selbst Aktivitäten, die früher Freude bereiteten, verlieren ihren Reiz.
In Deutschland leiden etwa 8-10% der Bevölkerung mindestens einmal im Leben an einer Depression, weltweit sind es laut WHO über 300 Millionen Menschen.
Der Teufelskreis: Wie Aufschieberitis und Depression sich gegenseitig verstärken
Depression und Prokrastination bilden oft einen gefährlichen Teufelskreis. Die depressive Erschöpfung raubt dir die Energie für alltägliche Aufgaben. Der Motivationsverlust macht es nahezu unmöglich, dich aufzuraffen, und kognitive Einschränkungen erschweren das Planen und Umsetzen.
Gleichzeitig verstärkt das ständige Aufschieben depressive Symptome. Jede nicht erledigte Aufgabe führt zu Selbstvorwürfen und verstärkt Schuld- und Schamgefühle. Du denkst vielleicht: „Andere schaffen das doch auch. Was ist nur los mit mir?“
Neurobiologisch besteht ein enger Zusammenhang über das Belohnungssystem. Bei beiden Zuständen ist die Dopamin-Verarbeitung gestört, was die Fähigkeit beeinträchtigt, langfristige Belohnungen anzustreben und exekutive Funktionen auszuführen.
Ein typischer Tag mit depressiver Prokrastination könnte so aussehen: Du wachst auf und fühlst dich bereits erschöpft. Die To-Do-Liste erscheint überwältigend. Du verschiebst den Start, scrollst stattdessen durch soziale Medien. Mit jeder verstreichenden Stunde wächst das Schuldgefühl. Abends bist du erschöpft, hast nichts geschafft und machst dir Vorwürfe, was die Depression verstärkt.
7 Warnsignale, dass deine Aufschieberitis mit Depression zusammenhängt
- Extreme Erschöpfung nach kleinen Aufgaben: Selbst nach dem Erledigen einfacher Dinge wie Abwaschen oder E-Mails beantworten fühlst du dich völlig ausgelaugt.
- Selbstsabotage: Du sabotierst unbewusst eigene Erfolge, weil du das Gefühl hast, keinen Erfolg zu verdienen.
- Komplette Handlungsunfähigkeit: Trotz drohender schwerwiegender Konsequenzen – wie Jobverlust oder wichtiger Fristen – schaffst du es nicht zu handeln.
- Überwältigung bei einfachen Aufgaben: Alltägliche Dinge wie Duschen oder Aufräumen erscheinen dir wie unüberwindbare Berge.
- Sozialer Rückzug: Du meidest Freunde und Familie, weil du dich für unerledigte Aufgaben schämst oder keine Energie für soziale Interaktionen hast.
- Vermeidung von Freizeitaktivitäten: Nicht nur Pflichten, sondern auch Dinge, die dir früher Freude bereiteten, werden aufgeschoben oder vermieden.
- Anhaltende Selbstkritik: Nach Phasen des Aufschiebens verfällst du in übermäßige Selbstkritik und Selbstabwertung, die weit über angemessene Selbstreflexion hinausgeht.
Wissenschaftliche Erkenntnisse zum Zusammenhang
Aktuelle Forschungen zeigen eine signifikante Korrelation zwischen Prokrastination und Depression. Studien belegen, dass Menschen mit depressiven Symptomen deutlich häufiger zu chronischem Aufschieben neigen.
Eine groß angelegte schwedische Langzeitstudie der Sophiahemmet-Universität in Stockholm bestätigt diesen Zusammenhang ganz konkret: Über einen Zeitraum von neun Monaten zeigte sich, dass ausgeprägte Prokrastination das Risiko für die Entwicklung von Depressionen, Angstzuständen und weiteren psychischen Beeinträchtigungen deutlich erhöht. Die Studie unterstreicht damit, dass chronisches Aufschieben nicht nur als Folge, sondern auch als möglicher Risikofaktor für Depressionen betrachtet werden muss.
Prokrastination und Depression teilen gemeinsame psychologische Grundlagen: verzerrte Zeitwahrnehmung, negative Selbstbewertung und Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation. Neurobiologische Untersuchungen zeigen ähnliche Muster bei der Gehirnaktivität – insbesondere in präfrontalen Bereichen, die für Planung und Impulskontrolle zuständig sind.
Langzeitstudien deuten darauf hin, dass chronisches Aufschieben tatsächlich als Risikofaktor für die Entwicklung einer klinischen Depression gelten kann. Die ständigen Misserfolgserlebnisse und Selbstvorwürfe können die psychische Gesundheit langfristig beeinträchtigen.
Kulturelle und gesellschaftliche Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle. Leistungsdruck, unrealistische Erwartungen und die ständige Erreichbarkeit in unserer modernen Arbeitswelt können beide Probleme verstärken.
Bewältigungsstrategien: Den Teufelskreis durchbrechen
Bei einer klinischen Depression ist professionelle Hilfe unerlässlich. Versuche nicht, allein damit fertig zu werden. Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich als besonders wirksam erwiesen, da sie sowohl depressive Denkmuster als auch problematische Verhaltensweisen wie Prokrastination adressiert.
Für den Alltag kann die 5-Minuten-Regel helfen: Verpflichte dich, eine Aufgabe nur für fünf Minuten zu beginnen. Oft ist der Anfang die größte Hürde, und du machst dann länger weiter.
Statt dich für dein Aufschieben zu verurteilen, übe dich in Selbstmitgefühl. Frage dich: „Würde ich so hart mit einem Freund ins Gericht gehen, der diese Schwierigkeiten hat?“
Plane deinen Tag nach deinem Energieniveau. Wenn du morgens mehr Energie hast, nutze diese Zeit für anspruchsvollere Aufgaben. Achte auf Regelmäßigkeit: Feste Routinen können in schwierigen Zeiten Halt geben und helfen, Motivationslöcher zu überwinden.
Entwickle ein Belohnungssystem, das tatsächlich funktioniert. Bei Depression müssen Belohnungen unmittelbar und mühelos zugänglich sein – warte nicht auf große Erfolge, sondern belohne auch kleine Schritte.
Praktische Alltagshilfen bei depressiver Aufschieberitis
Gestalte deine Umgebung so, dass sie das Erledigen von Aufgaben unterstützt. Reduziere Ablenkungen, schaffe einen aufgeräumten Arbeitsbereich und stelle benötigte Materialien bereit.
Nutze Apps und digitale Tools, die speziell für Menschen mit Konzentrationsproblemen entwickelt wurden. Timer-Apps, Fokus-Blocker oder To-Do-Listen mit kleinen, überschaubaren Aufgaben können hilfreich sein.
Suche dir einen Rechenschaftspartner. Mit jemandem regelmäßig über Fortschritte zu sprechen, kann die Motivation erheblich steigern. Auch „Body-Doubling“ – jemanden dabei zu haben, während du arbeitest, selbst wenn diese Person eigenen Aufgaben nachgeht – kann erstaunlich effektiv sein.
Entwickle effektive Strategien gegen das Aufschieben, die gleichzeitig der Selbstfürsorge dienen. Achtung: Manche vermeintlichen Selbstfürsorge-Aktivitäten können zu weiterer Prokrastination führen. Echte Selbstfürsorge gibt dir Energie zurück, statt sie nur zu konsumieren.
Nach Rückschlägen ist es wichtig, nicht in Selbstvorwürfen zu versinken. Betrachte einen „schlechten Tag“ als das, was er ist: ein einzelner Tag, kein Beweis für persönliches Versagen.
Erkläre Angehörigen deine Situation ohne Selbstabwertung: „Ich kämpfe gerade mit etwas, das sich wie eine Lähmung anfühlt. Es hat nichts mit mangelndem Willen zu tun, sondern ist ein gesundheitliches Problem, an dem ich arbeite.“
Wann du professionelle Hilfe suchen solltest
Es ist Zeit für professionelle Hilfe, wenn:
- Die Symptome länger als zwei Wochen anhalten
- Dein Alltag erheblich beeinträchtigt ist
- Du Selbstmordgedanken hast
- Selbsthilfemaßnahmen keine Besserung bringen
- Du dich in einem Teufelskreis gefangen fühlst
Die Behandlungsmöglichkeiten umfassen Psychotherapie (besonders kognitive Verhaltenstherapie), Medikamente (Antidepressiva) oder eine Kombination aus beidem. Was für dich am besten ist, entscheidet der Facharzt individuell.
Für einen ersten Termin beim Facharzt kannst du deinen Hausarzt um eine Überweisung bitten oder direkt bei Psychiatern oder Psychotherapeuten anrufen. Bei Energiemangel bitte einen Freund oder Angehörigen, für dich anzurufen oder online Termine zu recherchieren.
In einer Therapie lernst du, deine Denkmuster zu erkennen und zu verändern, bessere Bewältigungsstrategien zu entwickeln und allmählich deine Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen.
Während Wartezeiten können Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen wie die Telefonseelsorge (0800/111 0 111) oder lokale Krisendienste Unterstützung bieten.
Der Weg aus der Lähmung führt über Selbstverständnis und kleine Schritte
Der erste Schritt zur Überwindung von depressiver Prokrastination ist das Verständnis, dass es sich um ein reales Problem handelt – nicht um Faulheit oder Charakterschwäche. Diese Erkenntnis kann bereits entlastend wirken.
Beginne mit winzigen Schritten. Ein sauberes Glas, eine beantwortete E-Mail, fünf Minuten Bewegung – jeder noch so kleine Erfolg kann den Kreislauf der Lähmung durchbrechen. Mit der Zeit können diese kleinen Erfolge wachsen und dir das Vertrauen zurückgeben, dass Veränderung möglich ist.
Denk daran: Der Weg zur Besserung verläuft selten linear. Es wird gute und schlechte Tage geben. Das Ziel ist nicht Perfektion, sondern ein allmählicher Fortschritt und ein mitfühlendes Verhältnis zu dir selbst. Jede noch so kleine Handlung kann den Kreislauf durchbrechen und dir zeigen, dass Veränderung möglich ist. Sei geduldig mit dir selbst. Nimm dir die Erlaubnis, um Hilfe zu bitten, sei es bei Freunden, Familie oder Fachleuten. Du verdienst Unterstützung auf diesem Weg.








